Wessen Wahrheit?

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Nordirland: Hinterbliebene kämpfen noch immer gegen die offizielle Geschichtsschreibung

Tausende Menschen sind am vergangenen Sonntag in Belfast unter dem Motto »Zeit für Wahrheit – Zeit für Gerechtigkeit« auf die Straße gegangen. Sie erinnerten an die rund 3.500 Menschen, die während des Nordirlandkonflikts ums Leben kamen, der vor zwanzig Jahren durch das sogenannte Karfreitagsabkommen beendet wurde. Fast 2.000 Todesfälle wurden bis heute nicht aufgeklärt. Besonders hartnäckig wehrt sich die britische Regierung gegen Ermittlungen, wenn britische Armee, nordirische Polizei oder verdeckt operierende Sondereinheiten die mutmaßlichen Täter waren. Häufig behindert wird auch die Untersuchung von Anschlägen probritischer Todesschwadronen, denn zu oft waren staatliche Stellen Anstifter oder Helfer bei deren Verbrechen.

Die Opfer gelten auch heute noch offiziell als »Terroristen«, obwohl sie nach Faktenlage Zivilisten waren, die sich nicht am bewaffneten Konflikt beteiligt hatten. Ein Beispiel: Nur ein Wandgemälde erinnert heute noch an die »McGurk’s Bar«, die 1971 von der probritischen Ulster Volunteer Force (UVF) mit einer Bombe in einen Schutthaufen verwandelt wurde und 15 Gäste und die Kinder des Besitzers unter sich begrub. Von offizieller Seite wird behauptet, die Opfer seien terroristische Bombenbauer gewesen, ihren Tod nannten die Medien damals »Eigentor«. Die Fakten und Zeugen sagen etwas anderes. Seit Jahrzehnten kämpfen Familienangehörige dafür, dass die Ergebnisse ihrer langen Recherchen endlich anerkannt werden und die Behörden zur Aufklärung beitragen.

Solche Gruppen gibt es viele in Irland. Gemeinsam hatten sie zur Demonstration aufgerufen und zogen am Sonntag in drei Marschsäulen aus den Vierteln im Norden, Westen und Süden der Stadt vor das Belfaster Rathaus. Sie alle haben einen langen Atem und haben in den vergangenen Jahrzehnten in zähem Ringen schon viele Erfolge erkämpft. So ist das Recht der Opfer auf Aufklärung im Karfreitagsabkommen festgehalten. Anfang 2014 konkretisierte das Stormont-House-Abkommen, benannt nach dem Sitz des britischen Nordirlandministers, den Umgang mit strittigen Themen, darunter auch die Aufarbeitung der Vergangenheit. Die britische Regierung und die führende probritische Partei in Nordirland, die Democratic Unionist Party (DUP), hatten bis dahin alle Initiativen blockiert.

Inzwischen haben sich Initiativen und Justiz in einem ersten Schritt auf die öffentliche Untersuchung von 96 strittigen Fällen geeinigt. Der oberste nordirische Richter hat einen entsprechenden Fünfjahresplan erstellt, doch das für dessen Umsetzung nötige Budget wird von der britischen Regierung zurückgehalten. Sie fordert vor der Freigabe die Einigung der irischen Linkspartei Sinn Féin (SF) und der DUP auf eine erneute Zusammenarbeit in der nordirischen Regionalregierung. Anfang vergangenen Jahres hatte SF die Koalition aufgekündigt, unter anderem weil die DUP eine Umsetzung der Stormont-House-Vereinbarungen verweigerte. So spielen sich London und DUP, die ihrerseits mit ihren Stimmen im britischen Unterhaus die Konservativen in Großbritannien an der Macht hält, den Ball gegenseitig zu. Denn die offizielle Geschichtsschreibung soll weiterhin Großbritannien als am Konflikt unbeteiligte, neutrale Instanz präsentieren, die zwischen die Fronten zweier verfeindeter Gruppen geriet. Wenn aber die Untersuchungen von immer mehr Todesfällen des Nordirlandkonflikts den schmutzigen Krieg der Kolonialmacht, dreiste Lügen und den Schutz der Täter belegen, könnte manch einer auf den Gedanken kommen, auch die offizielle Version heutiger westlicher Militäreinsätze kritisch zu hinterfragen.

Dokumentarfilm über das Massaker in McGurk’s Bar (deutsche Untertitel):


Erstveröffentlichung: junge Welt vom 2.3.2018 weiterlesen >>

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