Nicht das letzte Kapitel, aber ein neues Kapitel

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Auf einem Sonderparteitag der irischen Linkspartei Sinn Féin (SF) am 10. Februar 2018 in Dublin wurde Mary Lou McDonald zur Präsidentin gewählt. Sie folgt auf Gerry Adams, der sich nach fast 35 Jahren an der Spitze der irisch-republikanischen Bewegung von allen Ämtern zurückzieht. Sein langjähriger Weggefährte Danny Morrison wendet sich mit einem Rückblick in der Irish Times an die Menschen im Süden der irischen Insel, von denen die meisten den Konflikt im Norden nicht aus eigener Erfahrung kennen:

Um Gerry Adams zu verstehen, muss man begreifen, welche Erfahrung die irische Community (*) in Nordirland gemacht hat.

Danny Morrison (Irish Times vom 9. Februar 2018 in deutscher Übersetzung)

Gerry Adams untrennbar mit dem Kampf um Gleichberechtigung der irischen Bevölkerung in Nordirland verbunden.

Ich bin sicher, dass es in Sinn Féin wegen des Rücktritts von Gerry Adams eine gewisse Nervösität gibt. Hat er die Partei doch zu großem Wahlerfolg in ganz Irland geführt und stand gemeinsam mit dem vor einem Jahr verstorbenen Martin McGuinness Jahrzehntelang an der Spitze des republikanischen Kampfes. Er war einer der besten und erfahrensten Verhandlungsführer der Republikanischen Bewegung. Das geben sogar seine Gegner zu.

(*) Anmerkung zur „“irischen Community“:  im Englischen Sprachgebrauch bezeichnet man die irischen Viertel in Nordirland als „nationalist community‘ . Das hat nichts mit unserem Verständnis von nationalistisch zu tun, sondern bezieht sich auf ihr politisches und kulturelles Selbstverständnis als Iren in Nordirland. Im Gegensatz hierzu bezeichnet man pro-britische Parteien als „unionistisch“ oder „loyalistisch“, d.h. für eine Union mit Großbritannien, bzw. für Loyalität gegenüber der britischen Monarchie. Die stärkste politische Partei der „nationalist community“ war einst die sozialdemokratische SDLP und ist seit 2001 die irisch-republikanische Linkspartei Sinn Fein (mit großer und immer noch wachsender Mehrheit).

Um Gerry Adams zu verstehen, muss man begreifen, welche Erfahrung die irische Community(s.o.) in Nordirland gemacht hat. Es ist ein großer Unterschied, über das Leben eines Bürgers zweiter Klasse zu lesen und diese Erfahrung täglicher Demütigung, Diskriminierung und Armut tatsächlich zu erleben. Wenn man in Freiheit lebt, ist es so einfach, denjenigen, denen sie fehlt, zu sagen, wie sie hätten leben, reagieren oder sich verhalten sollen. Es ist scheinheilig, andere zu kritisieren, wenn man selbst frei ist und man sich mit den politischen Institutionen identifizieren kann, nur weil eine frühere IRA gegen die Briten kämpfte, die einst die ganze Insel beherrschten.

Wir im Norden wurden für die Freiheit der übrigen 26 Grafschaften (Irlands) geopfert. So sah ich das und viele andere auch, die die Angriffe der unionistischen (pro-britischen, nordirischen) Regierung auf Bürgerrechtsdemonstrationen erlebten. Die erlebten, wie unsere Häuser niedergebrannt wurden, wie unsere Nachbarn von der (nordirischen Polizei) RUC getötet wurden und die britische Armee eine Ausgangssperre über das Stadtviertel Lower Falls ( Falls Curfew ) verhängte. Niemand kam uns zu Hilfe.

Aber natürlich fängt in der bevorzugten, anti-republikanischen, anti-Gerry Adams Version der Geschichte alles mit dem ersten Schuss der IRA an. Nicht etwa mit der weitverbreiteten, unerbittlichen staatlichen Gewalt und der institutionalisierten Diskriminierung, die den ersten Schüssen vorausging. Nachdem der Konflikt ausbrach, gab es fürchterliche, skrupellose Aktionen – von allen Beteiligten.

Konfliktlösung – der nordirische Friedensprozess

Eine Lösung des Konflikts wurde möglich, als die Briten in den 1990ern akzeptierten, dass es keine militärische Lösung geben würde und dass Verhandlungen alle Repräsentanten einschliessen mußten, auch Sinn Féin. Gerry Adams war entscheidend, um die IRA zum Waffenstillstand zu bewegen, später zur Entwaffnung und um die republikanischen Aktivist/innen und Unterstützer/innen von einem Kompromiss zu überzeugen.

Bei den Wahlen des Jahres 2001 überholte Sinn Féin die (nordirische sozialdemokratische Partei) SDLP (Social Democratic Labour Party) und wurde stärkste Partei in den irischen Communities (Nordirlands). In jeder der nachfolgenden Wahlen wurde der Abstand größer. Trotzdem war die Antwort der (beiden großen Parteien im Süden) Fianna Fáil und Fine Gael auf das Mandat von Sinn Féin nicht, ein abgesprochenes oder gemeinsames Vorgehen zur Lösung der offenen Probleme zu finden (so wie sie es mit der SDLP getan hatten). Es ging um Fragen einer gemeinsamen Regierung (in Nordirland), um Gleichberechtigung und Bürgerrechte.

Stattdessen gab es in der Zeit nach dem Karfreitagsabkommen als Antwort eine noch größere Feindseligkeit gegen die Partei, Einschüchterungsversuche und vor allem eine Dämonisierung von Adams. Diese Parteien müssen ihren „Waffenstillstand“ erst noch erklären. Der Grund dafür hat nicht wenig mit dem Wahlerfolg von Sinn Féin in der Republik zu tun. Sie werden nun versuchen, Adams Nachfolgerin mit denselben Verleumdungen schlechtzureden. Wenn man aber über die Aufarbeitung des Konflikts und die Wahrheit redet: Wann haben sie das letzte Mal die Britische Regierung aufgefordert, die Akten zu den Bombenanschlägen auf Dublin und Monaghan herauszugeben oder den 3000seitigen Bericht von Lord Stevens zu Collusion, (zur Zusammenarbeit staatlicher Stellen mit pro-britischen Todesschwadronen), zu veröffentlichen?

Ich kenne Gerry Adams seit 46 Jahren. Als Herausgeber der Republican News fragte ich ihn 1975, ob er eine wöchentliche Kolumne aus (dem Internierungslager) Long Kesh schreiben würde. Das machte er unter dem Pseudonym Brownie. Ein Jahr später veröffentlichte ich sein erstes Manifest „Frieden in Irland“.

Nach seiner Entlassung im Jahr 1977 arbeiteten wir gemeinsam am Aufbau und der Entwicklung von Sinn Féin und bekämpften die damalige Politik „Éire Nua (Neues Irland)“ der Partei, die wir für unrealistisch hielten.

Bobby Sands und Kieran Doherty

Aber von Anfang an steckten wir einen großen Teil unserer Energie in die kritische Situation in den Gefängnissen, wo es Proteste gegen die Abschaffung des politischen Status (für konfliktbezogene Gefangene) gab. Gerry und ich waren national und international unterwegs, trafen Politiker und Gewerkschafter, hatten mehrer Treffen mit dem Kardinal Ó Fiaich, der vergeblich versuchte, mit (der britischen Regierungschefin) Thatcher zu verhandeln. Wir trafen auch John Hume. Die Unbeweglichkeit der Briten führte in der Folge zu den Hungerstreiks von 1981, bei denen 10 Gefangene starben.

Mit den Briten zu verhandeln, die mit uns nach den ersten vier Toten in indirektem Kontakt standen, war schwierig, nervtötend und eine bittere Lektion in Doppelzüngigkeit. Ich kollabierte Anfang Juli (1981) und verbrachte einen Monat in einem Dubliner Krankenhaus. Wie Gerry und Martin (McGuinness) ihre Fassung und ihren Verstand in all den furchtbaren Monaten des Sterbens ihrer Genossen behielten, ist unglaublich und ein großartiger Beleg ihres persönlichen Mutes und ihrer Fokussierung.

Der Wahlsieg (der beiden Hungerstreiker) Bobby Sands im Norden und Kieran Doherty im Süden war der Beginn eines mehr strategischen Zugangs (zu Wahlen). Wir nahmen 1982 an den nordirischen Regionalwahlen teil und gewannen fünf Sitze.

Gerry Adams wurde dreimal angeschossen und sein Haus mit einer Handgranate angegriffen.

Zuvor hatte die britische Regierung uns immer gesagt, ohne Mandat der Wähler könne man nicht mit uns reden. Die Antwort auf unseren Erfolg war ein Verbot für Gerry, Martin und mich, Großbritannien zu betreten. Sie verweigerten uns die uns zustehenden Informationen für die Arbeit in den Bürgerbüros, verurteilten jeden, der mit uns sprach, und verboten Fernsehauftritte von Sinn Féin.

Zur selben Zeit gab es Anschläge auf unsere gewählten Repräsentanten. Es wurde auf sie geschossen, zuhause oder wenn sie als Abgeordnete unterwegs waren. Gerry selbst wurde dreimal angeschossen und sein Haus mit einer Handgranate angegriffen.

Von unserer Delegation, die 1988 direkte Gespräche mit der SDLP führte, war ich am wenigsten enthusiastisch. Ich sah keinen Sinn darin und konnte mir ein Ende des Konflikts nicht vorstellen. Aber ich hatte unrecht. Zwar wußte ich schon länger von Vater Alec Reid (ein Priester aus dem Kloster Clonard in West Belfast), las die verschiedenen Dokumente, die er geschrieben hatte – über Alternativen zum bewaffneten Kampf, über Dublin als möglichen Vermittler, …

Innerhalb der Führungsspitze leitete Gerry Adams diese Diskussion und überzeugte die Mehrheit der Republikaner, von denen viele sehr skeptisch waren, von einem friedlichen, pragmatischen Vorgehen ( und einem Versöhnungsprozess).

Er übergibt nun jüngeren Führungspersönlichkeiten eine sehr gesunde, radikale, republikanische, gesamtirische Partei. Die nächsten Aufgaben sind klar: die Bedrohung durch den Brexit abwenden und zu versuchen, die nordirischen Institutionen wieder zu etablieren.

Aber wenigstens arbeiten sie in einem friedlichen Szenario und in einem Irland, in dem
die Geburtswehen einer profunden Veränderung spürbar sind.

Nicht das letzte Kapitel, aber ein neues Kapitel.


Original: Irish Times vom 9.2.2018 >>

Übersetzung: Uschi Grandel, 11.2.2018, Anmerkungen in Klammern

Siehe auch:  Fotos in der Irish Times >>