Schlaflose Nächte

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Nordirland: Nachbarschaftsverbände in Belfast verhindern weitere Eskalation der Gewalt. Unruhe im unionistischen Lager

Von Uschi Grandel

Und was hast du dieses Wochenende gemacht? Diese Frage beantworten viele in den irischen Vierteln Belfasts mit müdem Lächeln. Doch diesmal liegt es nicht an der Pandemie, die auch in Nordirland seit über einem Jahr das Leben und die Nachrichten bestimmt. In West-Belfast verbrachten Aktive der irisch-republikanischen Linkspartei Sinn Féin, Sozialarbeiter sowie Mitglieder von Nachbarschaftsverbänden die vergangenen Tage und Nächte auf der Springfield Road. Die Straße läuft entlang der meterhohen Wand, die den irischen Teil von West-Belfast vom benachbarten probritischen Bezirk Shankill trennt. Der einzige Durchgang ist Lanark Way, dessen Stahltore nachts immer noch geschlossen werden. Diese Barriere war Tage zuvor von Jugendlichen aus dem Shankill angegriffen worden. Die Wohnungen auf der irischen Seite reichen bis dicht an das Mauer- und Stahlmonster heran.

Nur ein paar Straßen weiter liegt Bombay Street. Sie wurde 1969 von einem probritischen, »loyalistischen« Mob niedergebrannt. Die Polizei schaute zu. 2021 ist nicht 1969. Aber es braucht auch heute nicht viel, um junge Leute auf den Plan zu rufen, ihr Viertel zu verteidigen. Die Polizei ist auch nicht mehr die von 1969. Aber gegen junge Leute auf der irischen Seite, die den Angreifern entgegentraten, war die Polizei wie gewohnt mit viel Gewalt zur Stelle. Eine weitere Eskalation verhinderte nur der persönliche Einsatz bekannter Männer und Frauen des Viertels, die in vielen Gesprächen die Lage beruhigten.

Es gilt als sicher, dass die aktuellen Gewaltausbrüche nicht spontan waren, sondern von den loyalistischen Paramilitärs der Ulster Defence Association (UDA) organisiert wurden. Sie hatten sicher nicht ohne Hintergedanken den Angriff aus dem Shankill Bezirk gezielt auf das irische Nachbarviertel gelenkt. Auch in anderen Teilen Nordirlands konnte ähnliches beobachten werden. Die auflagenstärkste Tageszeitung, die Belfaster Irish News, warnte vor einer geplanten Eskalation.

Die Unruhen im loyalistisch-unionistischen Lager haben mehrere Gründe. Auch wenn Fortschritte bei der Umsetzung des 1998 geschlossenen Friedensabkommens – des sogenannten Karfreitagsabkommens – mühsam sind, sie verändern Nordirland trotzdem. In einer offeneren Gesellschaft gibt es keinen rechten Platz für die Paramilitärs der UDA, die beträchtlich in organisierte Kriminalität verstrickt sind. Auch die rechte, probritische Democratic Unionist Party (DUP) hat Panik. Sie fürchtet, ihre Stellung als stärkste Partei Nordirlands schon bald an Sinn Féin abtreten zu müssen. Außerdem könnte das rechte Lager des pro­britischen Unionismus ihnen anlasten, die im Austrittsvertrag zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU vereinbarte neue Zollgrenze in der irischen See nicht verhindert zu haben. Es ist schließlich schwer zu vermitteln, warum Loyalisten und DUP jahrelang mit Vehemenz den »Brexit« forderten, dessen Ausgestaltung Nordirland weiter von Großbritannien entfernt.

Vor diesem Hintergrund, kommentiert die in West-Belfast beheimatete Zeitung Andersonstown News, müsse man sich die Gewalt in den loyalistischen Vierteln ansehen. Schon im Februar traf sich die DUP-Spitze mit den Vertretern probritischen Paramiltärs. Seither wird Stimmung gemacht. »Aber«, so die Andersonstown News weiter, »die Tage der loyalistischen Großdemonstrationen und des Massenaufruhrs sind vorbei. Die Berichterstattung über die Straßengewalt war völlig überzogen, wenn man Ausmaß und Reichweite berücksichtigt«. Letztlich seien an den Vorfällen nur relativ wenige Menschen beteiligt gewesen, und der Schaden halte sich in Grenzen. Man könnte hinzufügen: Nicht einmal für die Titelseiten der britischen Zeitungen hat es gereicht. Denn einer Einsicht verschließen sich die nordirischen Loyalisten und Unionisten schon lange: In Großbritannien interessiert sich kaum jemand für sie.


Erstveröffentlichung: junge Welt vom 13.4.2021 >>

Foto (April 2021): In West-Belfast verbrachten Aktive der irisch-republikanischen Linkspartei Sinn Féin, Sozialarbeiter, Mitglieder von Nachbarschaftsverbänden und Anwohner die vergangenen Tage und Nächte auf der Springfield Road, um eine Eskalation der Gewalt zu verhindern.