Mehrmonatige Verhandlungen der nordirischen Parteien unter der Moderation von Richard Haas und Meghan O’Sullivan gingen am 31. Dezember 2013 ohne ein Abkommen der Parteien zu Ende. Trotzdem spricht Richard Haas von „erheblichem Fortschritt“. Die Verhandlungsdelegation der irisch-republikanischen Linkspartei Sinn Féin hat den letzten Entwurf des Abkommens als fairen Kompromiss gewürdigt und wird das Abkommen der Parteiführung zur Annahme empfehlen. Es gehe zwar vor allem bezüglich der Gleichberechtigung und der Respektierung der verschiedenen kulturellen Identitäten nicht weit genug, sei aber eine solide Grundlage zur Lösung der schwierigen Streitthemen der Paraden und Märsche, der Fahnen und Symbole, sowie der Aufarbeitung der Vergangenheit.
Die verhandelnden Parteien
Beteiligt an den Verhandlungen waren die fünf im nordirischen Regionalparlament vertretenen Parteien: die Democratic Unionist Party (DUP, pro-britische Unionisten, 30%), Sinn Fein (SF, irische Republikaner, 26.9%), die Social Democratic Labour Party (SDLP, irische Konstitutionalisten, 14.2%), die Ulster Unionist Party (UUP, pro-britische Unionisten, 13.2%), sowie die kleinere Allianz Party (AP, bürgerlich liberale Unionisten, 5.2%). Die Prozentzahlen beziehen sich auf die Ergebnisse der letzten nordirischen Regionalwahlen im Jahr 2011. Nicht am Verhandlungstisch, aber im Hintergrund beteiligt waren die irische und die britische Regierung. Noch immer existiert in der britischen Regierung ein Nordirlandministerium, dessen Chef vom britischen Premierminister ernannt wird. Die nordirische Regierung unter der gleichberechtigten, gemeinsamen Führung von Peter Robinson (DUP, First Minister) und Martin McGuinness (SF, Deputy First Minister) konnte vor kurzem die Zuständigkeit für Polizei und Justiz zurück nach Nordirland holen. Die Finanzhoheit liegt immer noch beim Nordirlandministerium.
Die pro-britischen Unionsten von DUP und UUP sehen bezüglich des Abkommens-Entwurfs große Übereinstimmung, reden aber von weiterem Verhandlungsbedarf. SF-Präsident Gerry Adams appelliert an die anderen Parteien, eine klare Haltung zum Abkommens-Entwurf einzunehmen. Die Zeit für Taktieren und nebulöse Stellungnahmen sei vorbei. Die Bevölkerung in Nordirland erwarte eine ernsthafte Lösung der Probleme.
„Wenn wir an einem Abkommen zu diesen zentralen Problemen scheitern, werden sie ständing die politische Entwicklung gefährden. Es wird dann sehr schwierig, Vereinbarungen zu sozialen und wirtschaftlichen Themen zu treffen, die wesentlich sind, um den Lebensstandard der Menschen zu verbessern“, sagte Gerry Adams. Der langjährige Abgeordnete des britischen Unterhauses (MP) für Westbelfast hatte im November 2010 sein Mandat niedergelegt, um an den Wahlen im Süden Irlands teilzunehmen. Er ist seither Abgeordneter für Louth im Dáil Éireann, dem Parlament der Republik Irlands. Sinn Féin tritt als gesamtirische Partei für die Vereinigung Irlands ein.
Missbrauchte Loyalität
Vielleicht erinnert sich der eine oder die andere noch an die Bilder, die im Januar des vergangenen Jahres weltweit Schlagzeilen machten. Pro-britische Fanatiker blockierten aus Protest gegen die Entscheidung des Belfaster Stadtrats, die britische Fahne „Union Jack“ nur noch an speziellen Tagen – und nicht mehr täglich – zu hissen, Autobahnen und lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. Sie gehören zur protestantischen Bevölkerungshälfte Nordirlands und nennen sich „Loyalisten“. Ihre Loyalität zur britischen Krone äussert sich als Hass auf alles Irische und Katholische. Einen wichtigen Teil des am Karfreitag des Jahres 1998 geschlossenen Belfaster oder Karfreitags-Friedensabkommens bilden die Vereinbarungen zur Demokratisierung Nordirlands und zur Schaffung einer gleichberechtigten Gesellschaft. Loyalistische Fanatiker sehen Schritte zur Gleichberechtigung der irischen Bevölkerungshälfte als Schwächung ihrer Sonderstellung, Verteidiger der „britischen Kultur“ in Nordirland zu sein.
Geformt und gefördert wurde dieser anti-irische Rassismus seit dem 19. Jahrhundert von Irlands (und später Nordirlands) kolonialer Elite. Mitte des 19. Jahrhunderts gründete sie die Oranierorden. „Loyale“ protestantische Bauern und Arbeiter sollten beitreten und ein Bollwerk gegen die große Mehrheit der irischen (und meist katholischen) Bevölkerung bilden. Die Mitgliedschaft in den Oranierorden sicherte den protestantischen Bewohnern der Arbeiterviertel Belfasts Anfang des 20. Jahrhunderts einen Arbeitsplatz in den Schiffswerften und Leinenfabriken der Stadt. Anti-irischer und anti-katholischer Rassismus der Oranierorden führte fast in jedem Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zu Pogromen gegen irische Viertel oder gegen irische Arbeiter in den Fabriken. Nach der durch Großbritannien erzwungene Abspaltung Nordirlands vom Rest der Insel im Jahre 1921 hatten die Oranierorden über viele Jahrzehnte das Sagen im neuen Staat. Sie dominierten die fast 50 Jahre lang alleinregierenden Unionist Party, die Vorgängerin der UUP.
Die beiden unionistischen (pro-britischen) Parteien, die inzwischen stark geschrumpfte UUP und die DUP, die mit Peter Robinson den First Minister der nordirischen Regionalregierung stellt, haben in der Vergangenheit meist gemeinsam mit Loyalisten und Oranierorden agiert. In den Machtkämpfen des unionistischen Lagers werden Kompromisse mit irischen Parteien schnell als Verrat gebrandmarkt. Der Haas / O’Sullivan Entwurf sieht ein vom nordirischen Regionalparlament zu schaffendes Gremium vor, das Oraniermärsche und umstrittene Paraden, aber auch andere Demonstrationenen nach einem klaren Regelwerk beurteilt, damit Verbote und Genehmigungen solcher Veranstaltungen transparent nach festen Kriterien entschieden werden. Bisher war eine vom Nordirlandministerium eingesetzte „Paradenkommission“ zuständig.
Kein gemeinsames Verständnis
Das dritte in den Haas / O’Sullivan Gesprächen behandelte Thema der Aufarbeitung des bewaffneten Konflikts ist kontrovers, weil die völlig unterschiedlichen Sichten der gegnerischen Seiten auf den Nordirlandkonflikt nicht kompatibel sind. In unseren Medien wird hauptsächlich die britische Version eines unverständlichen religiösen Konflikts zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland verbreitet. Die nordirischen pro-britischen Unionisten sehen den Konflikt ganz einfach als Terrorismusbekämpfung, bei der alle Mittel erlaubt sind, eine einfache schwarz-weiss Sicht, um die Gewalt der „richtigen Seite“ zu legitimieren.
Beide Interpretationen halten der Wahrheit nicht stand. Egal, ob man den bewaffneten Kampf der Irish Republican Army (IRA) für gerechtfertigt hält oder nicht, er richtete sich gegen einen Staat, der seit seiner Gründung Bürgerrechte und Menschenrechte, wie das Recht auf Unversehrtheit, Wohnung und Arbeit der irischen Hälfte seiner Bevölkerung systematisch vorenthielt. Großbritannien gründete diesen Staat, duldete das Einparteien-Regime und griff militärisch ein, als die Unionisten Ende der sechziger Jahre alleine nicht mehr Herr der Lage waren und eine starke Bürgerrechtsbewegung sich nicht von der Straße prügeln liess. Für Bloody Sunday, die Ermordung von vierzehn friedlichen Demonstranten durch das britische Fallschirmjäger-Regiment 1-Para im Januar 1972 hat sich David Cameron inzwischen entschuldigt. Viele weitere Opfer staatlicher britischer Gewalt oder Opfer der Zusammenarbeit britischer Geheimdienste mit pro-britischen, loyalistischen Todesschwadronen warten noch auf die Anerkennung des Unrechts, das ihnen wiederfahren ist.
Für eine gemeinsame Zukunft
Seit dem Karfreitagsabkommen gab es wesentliche Fortschritte. Die ehemalige nordirische Polizei RUC, die paramilitärische Stütze des alten anti-irischen Regimes, wurde durch eine neue „zivile“ Polizei ersetzt. Ein Aufsichtsgremium bestehend aus gewählten Representanten der betreffenden Stadtviertel beaufsichtigt die Polizeiarbeit. In öffentlichen Sitzungen wird vierteljährlich Bericht erstattet. Eine solche Polizeireform ist schwer genug. Dass eine Sondereinheit der neuen Polizei alte konfliktbezogene Verbrechen aufklären soll, stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Das dem PSNI-Chef untergeordnete HET, das historical enquiry team, „agiert nicht nach modernen Polizei-Standards“, erklärte kürzlich selbst eine britische Untersuchungskommission. „Fälle, in die staatliche Stellen verwickelt waren, wurden weniger intensiv untersucht als andere“. Der vorliegende Entwurf des Abkommens schlägt vor, das HET durch ein von der Polizei unabhängiges Team unter Leitung eines internationalen Experten zu ersetzen.
Lösungen für alle noch anstehenden Konfliktthemen sind nicht einfach zu finden und umzusetzen. Aber jeder Erfolg schafft etwas mehr an gemeinsamer Vergangenheitsbewältigung, die notwendige Voraussetzung für ein künftiges Zusammenleben.
Siehe auch: Hintergrund – der irische Friedensprozess >>