Peadar Whelan, An Phoblacht, Feb. 2016 (in deutscher Übersetzung): Viele Community-Gruppen waren im Visier des britischen Nordirlandministeriums (Northern Ireland Office, NIO). Foto: Die frühere Leinenfabrik Conway Mill in Belfast war ein rotes Tuch für die britische Regierung .
Vorbemerkung: Neue interne Notizen der britischen Regierung von 1985, die nach dem 31.12.2015 nach dreißig Jahren Geheimhaltung freigegeben wurden, bestätigen, dass die britische Regierung in den irischen Vierteln Nordirlands unliebsame basisdemokratische und selbstorganisierte Gruppen verfolgte und versuchte, sie als von Terroristen gelenkt zu kriminalisieren und dann durch Entzug von Förderung ausschalten. Darunter waren auch Job-Initiativen, Frauengruppen und Kinderkrippen.
Wer Nordirland kennt, weiß, dass eines der beeindruckendsten Errungenschaften der irischen Viertel ihre ungeheure Kraft der Selbstorganisation von unten ist. Solche basisdemokratischen Organisationen lassen sich nicht so einfach steuern. Das sah (und sieht?) die britische Regierung als gravierendes Problem und begann während des Nordirlandkonflikts gezielt, solche Organisationen von Förderung auszuschließen. Um das undemokratische Vorgehen zu legitimieren, behauptete die Regierung eine Nähe der zensierten Organisationen zu „paramilitärischen Gruppen“. Gemeint ist hier ausschließlich die IRA, nicht die pro-britischen Paramilitärs, deren Killerkommandos eng verwoben mit dem britischen „Sicherheitsapparat“ agierten und oft vom britischen Geheimdienst direkt gesteuert wurden. Die berüchtigte pro-britische UDA war gar bis Anfang der 90er Jahre legal.
Wir dokumentieren im Folgenden einen Artikel zum Thema von Pedar Whelan aus Belfast in leicht gekürzter Form. Den englischen Begriff „political vetting“ übersetzen wir als „politische Überprüfung“, „schwarze Listen“ und „politische Zensur“:
Die schwarzen Listen des (britischen) Nordirlandministeriums – eine Lizenz zum Töten?
Douglas Hurd war 1985 Nordirlandminister der Regierung von Margaret Thatcher. Er schrieb: „Durch Informationen, die mir vorliegen, bin ich überzeugt, dass es Fälle von lokalen Gruppen (Community-Gruppen) gibt, die genügend enge Verbindungen zu paramilitärischen Organisationen haben. Dies birgt das große Risiko, dass die Unterstützung dieser Gruppen den Rückhalt der entsprechenden paramilitärischen Organisation in der Bevölkerung und ihre Ziele direkt oder indirekt fördern würde. Ich glaube nicht, dass eine solche Verwendung von Regierungsgeldern im öffentlichen Interesse wäre. In den Fällen, in denen ich überzeugt bin, dass diese Bedingungen vorliegen, werden wir Fördermittel nicht auszahlen.
Die Argumentation von Hurd ist der seines Kabinettkollegen Douglas Hogg sehr ähnlich. Dieser erklärte im britischen Parlament, dass einige Verteidiger in Nordirland „der Sache der IRA ungebührende Sympathie entgegenbringen“. Innerhalb weniger Wochen, am 12. Februar 1989, wurde der Belfaster Anwalt Pat Finucane von einer UDA Gang erschossen. Heute weiß man, dass sie aus britischen Agenten bestand.
Am 27. Juni 1985 erklärte der damalige Nordirlandminister Douglas Hurd im britischen Parlament, er sei überzeugt, dass Leute in bestimmten Selbsthilfegruppen in Nordirland Verbindungen zu „paramilitärischen Gruppen“ hätten. Es sei ein „großes Risiko“, diese Gruppen zu fördern, weil damit die Ziele der „paramilitärischen Organisationen“ unterstützt würden.
Hexenjagd in den irischen Vierteln
Am selben Tag wurde ein Brief der vom Nordirlandministerium (NIO) kontrollierten Abteilung für wirtschaftliche Förderung (DED) an die Conway Mill Frauen-Selbsthilfegruppe in West Belfast. Das Schreiben informierte die Frauen, dass der Nordirlandminister Hurd ihre Förderung einstellte, weil sie nicht im „öffentlichen Interesse“ sei. Die Förderung, auf die sich der Brief bezieht, war im Februar, vier Monate zuvor, bewilligt worden und wurde für die Beschäftigung zweier Projektmitarbeiter im Projekt „Lokale Arbeitsplätze“ verwendet.
Damit wurde der „Hurd-Erlaß“ am selben Tag verkündet und umgesetzt. Mit ihm begann eine Hexenjagd auf Sozialarbeiter, Krippen-Aufsichtspersonal, irische Sprachaktivisten und „black taxi“ Fahrer, die sie in die Schusslinie loyalistischer (pro-britischer) Killer brachte.
Professor Bill Rolston von der University of Ulster, inzwischen im Ruhestand, fragte in seinem Beitrag zu dem 1990 veröffentlichten Bericht „Die politische Überprüfung von Community-Aktivitäten in Nordirland“: „Was hatte die Selbsthilfegruppe der Frauen verbrochen? Eine Kinderkrippe zu organisieren?“ Rolston erklärte den Grund der staatlichen Bestrafungsaktion: „Sie hatten die Frechheit, ihre Kinderkrippe in einem Gebäude zu betreiben, das für Douglas Hurd und seine Offiziellen ein rotes Tuch war, in Conway Mill“. (Conway Mill war eine leerstehende Leinenfabrik im irisch-republikanischen Viertel West Belfast, die von lokalen Aktivist/innen zum Community-Center umfunktioniert wurde. Alle möglichen basisdemokratischen Projekte fanden dort ihren Platz und auch lokale Gewerbe und Künstler siedelten sich an. Als Folge des Friedensprozesses wurde die „Mill“ renoviert und konnte in ihrer Funktion als Sammelpunkt für lokale Aktivitäten erhalten werden.)
Warum wurde Conway Mill, die unzählige lokale Gewerbetreibende und lokale Bildungsprojekte förderte, vom britischen Staat als subversiv verfolgt? In seinem Blog Léargas schrieb Sinn Féin Präsident Gerry Adams 2010 über die Bedeutung der “Mill’ nicht nur für die Menschen in West Belfast, sondern weit darüber hinaus. Er argumentierte, die britische Regierung habe ihr Augenmerk auf Conway Mill gerichtet, nachdem dort ein selbstorganisiertes Tribunal zum Mord an Seán Downes abgehalten wurde. Seán Downes wurde im August 1984 von der (nordirischen Polizei) RUC durch ein Plastikgeschoss getötet.
Sicherlich war das Downes-Tribunal ein Grund für die Kampagne der Briten gegen Conway Mill. Aber der tiefere Grund für Hurds politische Zensur-Strategie liegt tiefer. Bill Rolston sieht die britische Strategie in einem größeren Kontext und schreibt in The Political Vetting of Community Work (Die politische Zensur von Community-Aktivitäten):
Kampf um die Herzen und Hirne
“Nach dem Hungerstreik der republikanischen Gefangenen im Jahr 1981 und der wachsenden Stärke von Sinn Féin, began im NIO mit wachsender Intensität eine neue Phase, die man simpel als Aufstandsbekämpfung bezeichnen kann. Der Kampf ging um den Einfluss in den Arbeitervierteln, in denen die entsprechenden Community-Gruppen aktiv waren. Ziel war die direkte oder indirekte Kontrolle aller Community-Aktivitäten, Arbeitsvermittlung eingeschlossen.“
Der Akademiker Terry Robson, ebenfalls von der University of Ulster, skizziert in seinem Buch Der Staat und Community Aktivitäten zwei unterschiedliche Sichtweisen auf das Action for Community Employment jobs programme (ACE, Projekt zur Schaffung lokaler Arbeitsplätze), das in Nordirland in den 1980ern eingeführt wurde und das viele als das zentrale Instrument der Schlacht um die Herrschaft über die Herzen und Hirne sahen, wie sie Rolston beschrieben hat. Robson schreibt: “Viele führende Köpfe der Community-Aktivist/inn/en sahen das ACE als bedeutenden Beitrag zur Entwicklung der Stadtviertel, als Ausbildungsprojekt und auch als Beitrag zur Schaffung lokaler Jobs.
Auf der anderen Seite bot das ACE-Programm eine exzellente Möglichkeit für den Staat, den wachsenden Einfluss von Sinn Féin auf der Straße zu bekämpfen, weil gleichzeitig missliebige Community Gruppen neutralisiert wurden und nicht mehr effizient zu lokalen politischen Aktivitäten beitragen konnten.“
Mary Nelis bestärkte diese Sichtweise durch die Erfahrungen des Dove House Community Resource Centre in Derry’s Stadtviertel Bogside, das ebenfalls auf der schwarzen Liste stand, überprüft wurde und seine staatliche finanzielle Unterstützung verlor. Sie brachte einen neuen Aspekt politischer Intrige in die Debatte. Ihrer Meinung nach gab das ACE-Programm der britischen Regierung „die Möglichkeit, Machtbasen in den Stadtvierteln einzurichten, mit Leuten, die nach Ansicht der Regierung politisch akzeptabel waren. Dazu gehörten beispielsweise die katholische Kirche oder die nordirische Partei SDLP (Social Democratic Labour Party), die dadurch zu Regierungsbeauftragten in den entsprechenden Stadtvierteln wurden.“ Damit wurde das ACE-Projekt, das prinzipiell den Communities Nutzen bringen könnte, von der britischen Regierung in ihrem Kampf gegen missliebige Community-Gruppen verwendet, die sich außerhalb der von den Briten gesetzten politischen Parameter bewegten.
Wissen ist Macht
Terry Robson brachte einen weiteren Aspekt ein. Das Problem für die Briten begann seiner Meinung nach „mit der politischen Krise nach 1969, als soziale Probleme eskalierten. Die Gründung von Selbsthilfe-Bildungsorganisationen in Arbeitervierteln, die als Ziel hatten, Unmündigkeit und Abhängigkeit zu beseitigen, hielten etliche in Regierungskreisen für politisch motiviert.“ Robson bezieht sich hier auf die Selbsthilfe-Strategien, wie sie die irischen Viertel entwickelten. Ihre Stärke sah der Staat als Kampfansage. Das NIO behauptete angebliche Beziehungen dieser Gruppen zu Sinn Féin und vermischte die Propaganda gegen die Partei mit Verleumdungen der Selbsthilfegruppen, um so ihre Strategie der politischen Zensur zu legitimieren …
Eine interessante Situation ergab sich, im August 1990, als der West Belfaster Gruppe der irischen Sprachaktivist/innen Glór na nGael die Unterstützung entzogen wurde. Die Gruppe war verantwortlich für eine Kampagne zur Errichtung von Straßenschildern in irischer Sprache und verletzte damit ein Gesetz von 1949, nach dem nur englische Namen zulässig seien. Auf die schwarze Liste kamen sie nach Ansicht vieler Beobachter, als sie eine Kampagne gegen den Vorschlag des NIO Erziehungsministers Brian Mawhinney führten, der den Status der irischen Sprache in Schulen herabsetzen wollte. Der aus Belfast stammende arrogante Tory Mawhinney war so verärgert, dass er die Organisation auf die schwarze Liste setzte. Im Oktober erhielt Glór von der nordirischen Polizei RUC die Genehmigung zur Straßenkollekte in der Belfaster Innenstadt. Offensichtlich gab es also keine Sicherheitsbedenken, sondern politische Gründe für den Entzug der Unterstützung.
Geheime Papiere der britischen Regierung, die im Januar 2016 nach der Sperrfrist von 30 Jahren veröffentlicht wurden, belegen dies im Fall der Falls Taxi Association. Der Behördenleiter des NIO, Ken Bloomfield, schickte eine Notiz an die RUC mit der Aussage, die Falls Taxi Association (heute: West Belfast Taxi Association) habe „enge Beziehungen zu paramilitärischen Organisationen”. Die Notiz stellte eine sehr spezifische Verbindung zwischen den Taxifahrern und der IRA her und behauptete, die Fahrer hätten „vermutlich Zahlungen an die Provisionals (Name der IRA nach ihrer Spaltung von 1971) zu leisten. Es werde erwartet, dass sie Diesel an Tankstellen der Provisionals tanken und ihre Autos in deren Werkstätten reparieren ließen.“
Verleumdungen machen Aktivist/inn/en zur Zielscheibe
Una Marron und Maura McCrory vom Falls Frauenzentrum … bilanzieren die Auswirkungen der schwarzen Listen für die betroffenen Gruppen und ihre Aktivist/innen: “Einer der problematischsten Aspekte dieser politischen Überprüfungen ist, dass Vorwürfe erhoben werden und Verleumdungen in die Welt gesetzt werden, gegen die es keine rechtliche Möglichkeit der Gegenwehr gibt. Angestellte des Projekts und Nutzer der Angebote werden dadurch zur Zielscheibe und können sogar ihr Leben verlieren.“
Und einige, die in Verbindung mit Organisationen standen, die auf die schwarze Liste gerieten, verloren ihr Leben. ‘Black taxi’ Taxifahrer wurden häufig von pro-britischen, “loyalistischen” Killerkommandos angegriffen. Mehrere Mitglieder der Falls Taxi Association kamen so ums Leben, viele wurden verletzt. John Devine hatte ein kleines Kohlengeschäft in Conway Mill. Er wurde in seinem Haus in Fallswater Street 1989 erschossen.
„Wir akzeptierten Nein als Antwort nicht“
Trotz der Schwierigkeiten und Gefahren, die die schwarzen Listen brachten, konnten die Community-Gruppen ihre Bildungsziele verwirklichen – mit Hilfe von Unterstützern aus Irland, Großbritannien, Europa und den USA – und verhalfen den (irischen) Viertel zu der Stärke, die sie heute auszeichnet. Die Worte von Fr. Des Wilson, einem der bekanntesten Aktivisten, der gemeinsam mit den Cahill-Brüdern Tom und Frank treibende Kraft der Entwicklung von Community-Organisationen in Belfast war, inspirieren auch heute noch …
Eine Rede im Jahr 1998 stellte er unter das Motto „Wir akzeptierten Nein als Antwort nicht“ und erklärte: „Der Kampf gegen handfeste Interessen und bürokratische Indifferenz war lang und zäh, aber am Ende erfolgreich. Er war erfolgreich wegen der Standhaftigkeit vieler Communities, Organisationen und Individuen, die es nicht zuließen, dass ihre Stimme zum Schweigen gebracht wurde oder ihre Identität, Energie und Kreativität von einer Regierung zerschlagen wurde, die ideologisch der Entwicklung echter Basisorganisationen feindselig gegenüberstand.“
Original: Peadar Whelan, An Phoblacht, Februar 2016 weiterlesen >>
Übersetzung und Vorbemerkung: Uschi Grandel