Feile an Phobail 2019

Brexit als Chance

Veröffentlicht von

Eine Party für die irische Einheit: zu Gast beim Féile an Phobail Festival in Belfast

Von Nina Rink und Anita Starosta

Zwischen den Laternenmasten auf der Falls Road im nordirischen Westbelfast sind bunte Girlanden gespannt, an jedem Mast hängt eine pinke Fahne mit der Aufschrift »Féile an Phobail«. Eine Woche lang werden über 75 Veranstaltungen Tausende Besucher*innen von Jung bis Alt in den Stadtteil ziehen, in dem politische Wandbilder die Straßenzüge prägen. Das Féile ist heute eines der größten Community-Festivals Europas – gegründet wurde es 1988 während der sogenannten Troubles, als direkte Antwort auf die anhaltenden Repressionen durch das britische Militär gegen die republikanisch-katholische Bevölkerung. Das Ziel: die schönen und positiven Seiten des gemeinsamen Lebens im Stadtteil zu feiern und der Begeisterung für (irischen) Sport, Kunst und Kultur Ausdruck zu verleihen.

Das vielfältige Angebot umfasst Wanderungen in die Belfast Hills, Stadtrundgänge mit ehemaligen IRA-Gefangenen, einen Boxkampf, Golf und Kindersportturniere, Theater- und Filmvorführungen und zahlreiche politische Talks. Hinzu kommen Straßenaktionen wie der Gedenkmarsch Angehöriger der Ermordeten des Ballymurphy-Massakers von 1971 oder eine Kundgebung gegen den Einsatz von Gummigeschossen durch britische Sicherheitskräfte. Seit 1970 wurden schätzungsweise 120.000 dieser Geschosse abgefeuert. Sie töteten 17 Zivilist*innen. Das musikalische Rahmenprogramm hat ebenfalls von Irish-Rebel-Songs bis Boyzone einiges zu bieten.

Eine gute Gelegenheit, in die Geschichte des Nordirlandkonfliktes einzutauchen, Zeitzeug*innen zu treffen und die Bestrebungen für ein Vereinigtes Irland – und gegen die britische Besatzung – besser zu verstehen. Das Festival nimmt sich auch internationaler Themen an: So spricht beispielsweise eine Vertreterin der kurdischen Frauenbewegung – der Austausch über die Hungerstreiks ihrer politischen Gefangenen verbindet die Diskussionsteilnehmer*innen. Die lose Delegation der deutschen Solidaritätsbewegung zeigt dieses Jahr den Film »Der Kuaför von der Keupstraße« – in Anwesenheit des Regisseurs Andreas Maus. Die im Film behandelten Aspekte – Staatsversagen, Verwicklungen rechter Strukturen mit der Polizei und die staatliche und gesellschaftliche Ignoranz gegenüber Betroffenen – sind der republikanischen Bevölkerung gut bekannt. Die britische Polizei und Einheiten des Militärs verübten zahlreiche Morde, Anschläge und Vertreibungen, von denen bis heute die meisten nicht offiziell aufgeklärt oder strafrechtlich verfolgt wurden.

Dauerthema Brexit und Boris Johnson

Doch das tagesaktuelle Topthema auf, aber auch abseits des Festivals ist der nahende Brexit. Im Doppeldeckerbus, im Pub oder auf der Straße – bei einer Sache sind sich unsere Gesprächspartner*innen schnell einig: Die Ernennung des rechtspopulistischen Boris Johnson zum Premierminister des Vereinten Königreiches ist eine Katastrophe. Die Ablehnung gegen ihn wird mitunter noch deutlicher und nicht unbedingt jugendfrei artikuliert. Ob diese Meinung in den bekannten Vierteln der Hardliner-Loyalist*innen – gut erkennbar an den an Häusern und Laternen in großer Zahl angebrachten Union-Jack-Fahnen – geteilt wird?

Wenn es um den von Johnson angestrebten harten Brexit geht, wird es ernst. Die Sorge wegen der sozialen und ökonomischen Folgen für Nordirland ist deutlich spürbar. Der Warenverkehr könnte aufgrund von Zollverfahren erheblich erschwert werden – für viele schlicht unvorstellbar, denn beide Teile der Insel sind ökonomisch aufeinander angewiesen. Einige beschäftigen die Konsequenzen für ihren Alltag: Da ist der Trucker, der bisher europaweit für eine Spedition fährt, oder unser Guide in Derry, der hinter der Grenze wohnt und pendelt. Das offizielle Austrittsdatum am 31. Oktober dieses Jahres rückt immer näher. Klar ist: Beim Brexit-Referendum im Juni 2016 stimmten 55,8 Prozent der Nordir*innen für den Verbleib in der EU, 44,2 Prozent für den Austritt.

Dieser Austritt hätte eine 500 Kilometer lange Grenze in einem Landstrich zur Folge, in dem sich die Bewohner*innen selbstverständlich von der einen zur anderen Seite bewegen. Mit dem harten Brexit kommen die bewachten Grenzen und Zollstationen zurück. Und das in einem Land, in dem die Segregation durch einen mühevollen Friedensprozess langsam abgebaut wurde und Mauern – wie in Belfast – bis heute sichtbar sind. Die alljährliche Gedenkdemo für die zehn Hungerstreikenden von 1981 führt wie zum Trotz diesmal auch symbolisch über die Grenze.

Auch einige prominente pro-britische Politiker*innen in Nordirland, wie auch in England, haben mit »remain« gestimmt – es gibt auch hier die Stimmen, die sich aus unterschiedlichen Gründen für den Verbleib in der EU aussprechen. Selbst bei eingefleischten Unionist*innen scheint beim harten Brexit die Loyalität zu Westminster zu bröckeln, wird uns berichtet. Die ökonomischen Rückschritte und direkten persönlichen Nachteile betreffen schließlich auch Loyalist*innen. Sichtbar wird das auch innerhalb der irischen Bürokratie: Das Amt für die Passausgabe ist an der Belastungsgrenze, da immer mehr Nordir*innen das Recht auf die doppelte Staatsbürgerschaft in Anspruch nehmen und sich neben dem britischen einen irischen Pass ausstellen lassen. Die Vorzüge der Reisefreiheit möchte niemand schnell missen.

Karfreitagsabkommen und Brexit

Auch auf dem Féile werden diese Fragen heiß diskutiert und stoßen bei den Besucher*innen auf großes Interesse. Die diesjährige »Leaders-Debate« ist eine der am besten besuchten Veranstaltungen. Der Saal ist schon eine Stunde vor Beginn brechend voll, ebenso zwei weitere Räume, in denen die Debatte live gestreamt wird. Das Publikum tuschelt, kommentiert, klatscht und pfeift. Auf dem Podium sitzen die Vorsitzenden der großen irischen und nordirischen Parteien, von der links-republikanischen, irlandweit aktiven Sinn Féin, der konservativen irischen Regierungspartei Fine Gael bis zur rechten pro-britischen Democratic Unionist Party (DUP). Die meisten Sympathien ernten die Redebeiträge von Mary Lou McDonald (Sinn Féin) – kein Wunder mitten im republikanischen Viertel. McDonald blickt optimistisch nach vorne: Noch nie sei man einer Vereinigung Irlands näher gewesen – der Brexit als Chance.

Wie auch die anderen irischen Parteienvertreter*innen bezieht sich McDonald auf das 1998 geschlossene Karfreitagsabkommen, das den Friedensprozess in Nordirland einläutete und gleiche Rechte für die Bevölkerung festschrieb: die Einrichtung eines nordirischen Regionalparlamentes (Stormont), soziale Absicherungen. Ebenfalls verhandelt ist die Frage nach der gesamtirischen Identität. Bürger*innen Nordirlands ist freigestellt, ob sie den irischen, den britischen Pass oder beide besitzen. Auch ein Referendum über die Frage der Vereinigung ist vorgesehen, sollte die Mehrheit der nordirischen Bevölkerung für ein gemeinsames Irland votieren. Damit steht Nordirland vor einer komplexen Situation, wenn der EU-Austritt des Vereinten Königreiches Realität wird. Einigkeit auf dem Podium herrscht in der Absicht, das Karfreitagsabkommen ernst zu nehmen, und die Grundfesten auf denen der nordirische Frieden beruht, nicht zu ignorieren.

Die irischen Parteien reagieren dennoch verhalten auf die Forderungen McDonalds, zeitnah in die Vorbereitung eines Referendums zu gehen. Sie kontert, es gehe ihr nicht um Schnelligkeit, sondern zuerst um eine breite Debatte mit zivilgesellschaftlichen Initiativen und den Inselbewohner*innen auf beiden Seiten. Komplexe Fragen wie die Verfassungsänderung, die Verankerung der Rechte der britischen Bevölkerung in Nordirland oder das wahrscheinliche Erstarken der linken Sinn Féin, die als einzige Partei auf der ganzen Insel eine relevante Wählerschaft hat, lassen sie dennoch zögern.

Historische Chance für ein vereinigtes Irland

Die Sinn-Féin-Kampagne »Time for Irish Unity« ist uns auf Plakaten im Straßenbild bereits begegnet. Nun nimmt sie Formen an. Es scheint so, dass der Brexit für Irland zu einem historischen Meilenstein werden könnte, der endlich die lang ersehnte Einigkeit für die Republikaner*innen bringen könnte. Zumindest stimmt der vorsichtige Optimismus von Sinn Féin und ihren Anhänger*innen hoffnungsvoll. Aus der EU gäbe es dafür Unterstützung, signalisieren Sinn-Féin-Politiker*innen, die in den letzten Wochen intensive Gespräche geführt haben. Jetzt bräuchte es den Druck der Bürger*innen, meinen sie. Unterstützer*innen der Idee scheint es auf der irischen Seite auch zu geben: Bei einer Umfrage während der letzten Kommunalwahlen gaben 77 Prozent an, der irischen Reunion positiv gegenüberzustehen.

Jenseits der politischen Debatten ist der Spirit einer gesamtirischen Identität schon zu spüren: Die Wolftones und andere traditionelle irische Folkbands besingen zum Ende des Festivals den nordirischen Befreiungskampf der IRA und die irische Einheit. In den Liedern werden die Geschichte der Unterdrückung, die Kämpfe der Hungerstreikenden im Gefängnis oder die harten Zeiten der Hungersnot in eingängigen Melodien besungen. Tausende Jugendliche feiern ausgelassen zu dieser Musik, bemalt mit der oder eingehüllt in die irische Fahne. Bier und Cider tun ihr Übriges zu einer ausgelassenen, betrunken-sentimentalen Liebesbekundung zur Vereinigung Irlands.

Nina Rink und Anita Starosta haben mit einer Delegation der Nordirland Solidarität das Féile an Phobail und andere Orte des Nordirlandkonfliktes besucht. Ihr Bericht wurde zuerst in ak – analyse & kritik Nr. 651 / 20.8.2019 veröffentlicht.

www.feilebelfast.com